
Viele meinen: Den 23. Psalm kennen doch alle. Er ist in der Tat der bekannteste Psalm. Diese Einheit soll jede Leserin und jeden Leser herzlich einladen, den Psalm neu zu entdecken und mit seiner trostvollen Wahrheit auch heute zu leben.

V 1: Der Herr ist mein Hirte. David spricht hier ein persönliches Bekenntnis, eine persönliche Erfahrung aus. Wahrscheinlich denken andere Leute anders über Gott als er. Sie sind kritisch, sie blicken durch Gottes Handeln nicht hindurch, oder sie können für das Empfangene nicht danke sagen. Dagegen kann und will David bekennen, und er schreibt es auf und singt:
Der Herr ist mein Hirte. In diesem Augenblick denkt er nur an die Fürsorge eines guten Hirten für seine Schafe. Er kennt zwar auch die andere Seite dieses harten Berufes: Krach zwischen den Hirten, Verwünschungen über unzumutbare Arbeitsbedingungen, über weggelaufene Schafe, über das mühsame Suchen nach mehr Grün in den judäischen Bergen... David kennt dies alles auch, er hat lange genug die Schafe seines Vaters gehütet (1. Sam 16, 11). Hier aber singt er: Mein Gott ist wie ein guter Hirte zu mir.
In Ägypten wurde die Arbeit eines Hirten wesentlich niedriger eingeschätzt als in Israel (vgl. 1. Mose 46, 31-34). Auch die Patriarchen waren selbst Hirten gewesen. Merkwürdigerweise wurde diese Bezeichnung bis in die Zeit der Propheten hinein nie auf Fürsten und Könige angewandt, sondern nur auf Gott. So preist Jakob im Verlauf eines Segensgebets Gottes Hirtentreue ihm und seinem Haus gegenüber (1. Mose 48, 15). In Ps 77,21 wird Gott als dem Hirten gedankt, wobei Mose und Aaron als eine Art "Unterhirten Gottes" auftreten (vgl. auch Ps 100, 3).
Später, in prophetischen Schriften, werden die schlechten Hirten Israels mit harten Worten verurteilt. So vergleicht Hesekiel in Kap. 34,1 -6 schlechte und gute Führungseigenschaften und klagt die egoistischen Hirten an, weil sie ihre Verantwortung gegenüber den anvertrauten Menschen nicht eingelöst haben.
Mir wird nichts mangeln. Das Schöne und Eigentümliche an der hebräischen Sprache ist gerade hier, dass Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft ineinander übergehen. Wir haben in den europäischen Sprachen klarere Zeitabgrenzungen, aber dieser Satz darf heißen: "Mir mangelt nichts, mir mangelte nichts, mir wird nichts mangeln." Dies, so fügt Hans Brandenburg in seiner Auslegung hinzu, ist eine "Mehrmöglichkeit" des Hebräischen. Inhaltlich und theologisch steht diese Aussage unmittelbar neben der großen Verheißung Jesu an seine Jünger: "Ich bin bei Euch alle Tage... " (Mt 28, 20).
V 2: Er weidet mich.... er führt mich...: In jedem Satz des 23. Psalms kommen zwei Personen vor: der Herr und ich. Das heißt: So wichtig bin ich für Gott, auch wenn die "Gesamtherde" aus 100 oder aus 100 000 "Schafen" besteht. David hat vor Gott keinen "Ich-bin-nichts-Komplex". Weil der große Herr und Hirte sich um ihn kümmert, ist er jemand (vgl. Ps 139 13-14).
V 4-6: Dennoch steht im Zentrum jedes einzelnen Satzes nicht David, sondern Gott. Auch dort, wo in V 4 der Stil sich ändert und David seinen Herrn in der Du-Anrede ganz nahe an sich heranholt: Du bist bei mir, bleibt Gott im Mittelpunkt. Anders wäre es ja auch unmöglich, im Vertrauen und im Frieden zu leben. Stünde der Mensch im Mittelpunkt, würde er sehr bald unter dem Leistungsdruck kaputtgehen, verschmachten (vgl. Mt 9, 36). Übertragen heißt das: Der Mensch kann das, was wirklich Wert und Bestand hat, nur empfangen. Er kann Lebenswasser, Lebensausrichtung, Lebensschutz und Lebenskraft nicht selbstversorgend beschaffen! Das funktioniert vielleicht ein paar krisenlose Monate hindurch, wenigstens scheint es ihm so. Aber wenn dann ein wirklich "finsteres Tal" kommt und "Feinde", wer hilft dann? Die Antwort des David lautet: Der Herr hilft. Er hilft lebenslang, bis an das Ziel, bis in das "Haus des Herrn".
Es liegt im allertiefsten Herzensinteresse Gottes, David die Treue zu halten und ihm durch Gefahren hindurch zu helfen.
Genauso handelt Jesus als unser guter Hirte. Lies zur Vorbereitung auf das Gruppengespräch Joh 15, 1-30 und nimm dann ganz persönlich an, was der Gute Hirte dort verspricht: "Niemand wird sie aus meiner Hand reißen" (V 28).

"Hirte" ist in der Bibel eine Art geschützter Titel, vorrangig für Gott und Jesus Christus; später auch für die Führer Israels und die Leiter der neutestamentlichen Gemeinde (Apg 20, 28). Der gute Hirte, das ist aber letztlich immer nur Gott in seiner Zuwendung zum Menschen. Das wird deutlich:
- - Im Alten Testament an Gottes treuem Fürsorgeverhältnis zu Israel (an seiner Bundestreue).
- - Im Neuen Testament an Jesu Treue gegenüber allen, die an ihn als Erlöser glauben.
Menschen, die zu Gottes "Herde" gehören und seine treue Führung erfahren, sollen dies auch bekennen, besingen - so gut sie können, auch wenn nicht jeder ein Dichter und Sänger wie David ist.
Gottes Führung erfahren, heißt nicht, gefahrlos leben, ohne Hungerzeiten, ohne Nacht, ohne enge, dunkle Täler. Streckenweise leben auch Christen aus Hoffnung, aber in dem Vertrauen zu dem guten Herrn, der derselbe bleibt, "gestern, heute und in Ewigkeit" (Hebr 13, 8).

- Wie wird der Hirte bechrieben? Was zeichnet einen guten Hirten aus?
- Versucht - in Kleingruppen oder gemeinsam - ein realistisches Bild von Arbeit und Leben eines Hirten zur Zeit des Alten Testaments zu entwerfen. Vergeßt alle Vorstellungen von Hirtenidylle, denkt an die karge Landschaft Israels, die wilden Tiere, die harten Lebensbedingungen. Lest dazu 1. Sam 17, 34-35; Hes 34, 1-6.23.
- Was berührt Euch besonders an diesem Text?
- Dieser Text wird oft am Krankenbett und bei Beerdigungen gesprochen. Warum?

- Wer in der Gruppe hat Gottes gute Führung und seinen Schutz in Gefahren schon erlebt? Erzählt davon, aber auch das Alltägliche, das wenig Dramatische. Denn auch die Herde hat ja meistens Alltag.
- Unterhaltet Euch darüber, wie verschiedene Lebenssituationen das Mitbeten mit diesem Psalm unterschiedlich färben können. Ein Beispiel: Wie betet ein Achtzehnjähriger diesen Psalm und wie eine Achtzigjährige? Wird dieser Psalm im Verlauf eines Lebens nicht immer wieder neu?
- Lest den 23. Psalm gemeinsam - laut und betend und versucht dann, ihn nach der Luther-Übersetzung bis zur nächsten Woche auswendig zu können. Das ist geistliches Kapital bis auf Euer Sterbebett.
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